Deine Sicht

Stell dir, lieber Leser, einfach mal diese Situation vor: Du gehst mit deinem süßen, wunderbaren Hund einen Waldweg entlang. Links und rechts von dir, wie in einem Wald üblich, viele Bäume. Tannen und Fichten. Ein typischer deutscher Wirtschaftswald. Der Weg vor dir geht nur geradeaus. Gelegentlich kreuzt ein anderer Weg deinen Weg. Eine solche Kreuzung kannst du in einiger Entfernung sehen. Dein Hund läuft bei dir, die Rute leicht erhoben, der Blick zu dir gewandt. Ein warmes Gefühl der Freude macht sich in dir breit. Ein Lächeln verzaubert dein Gesicht. Schlagartig dreht dein Hund seinen Kopf weg, seine Aufmerksamkeit ist nach vorn gerichtet, und bis dein Gehirn realisiert hat, dass dein Hund etwas anderes erspähte, sehen deine Augen schon, wie er in vollem Galopp zum Spurt ansetzt. Er hat den Reiter mit dem Pferd gesehen, der auf der Kreuzung euren Weg kreuzt. Du rufst deinen Hund. Beim ersten Rufen bist du bestimmt, beim zweiten Rufen energischer, beim dritten verzweifelter, beim vierten frustrierter, beim fünften Rufen hast du bereits innerlich aufgegeben und deine Machtlosigkeit tritt offen zutage, denn du weißt, er kommt jetzt ohnehin nicht zurück. Du gehst ein paar Schritte in den Wald, versteckst dich hinter einem Baum, wie du es in einem Buch gelesen hast. 

Nachdem der Reiter deinen Hund abgewehrt hat, steigt er wieder auf und reitet weiter. Dein Hund verliert das Interesse an dem Pferd und kommt fröhlich zurück. Er hebt kurz die Nase, ortet dich hinter dem Baum, hinter dem du dich versteckt hast, und kommt zu dir. Du freust dich ganz doll. Neben vielen Knuddeln bekommt er noch das Leckerli, das er so gerne mag. Er ist schließlich wieder zurückgekommen. Du hast ihn abgerufen. Er hat dich gesucht und gefunden. Und dass er gekommen ist, muss man belohnen. Er soll dich doch gerne haben.

Die Sicht deines Hundes

Wir sind heute wieder im Wald unterwegs. Das mag ich sehr gerne. Hier gibt es so viel zu riechen und zu entdecken. Für Menschen muss sich das wohl anfühlen wie in der Feinkostabteilung eines Marktes. Ich weiß, ich sollte dieses oder jenes nicht vom Rand des Weges fressen. Aber es riecht und schmeckt so gut. Und mein Frauchen hat schon vor langer Zeit aufgehört, mir das zu verbieten. Meine Beharrlichkeit und Ignoranz vollbringen offenbar bei ihr erzieherische Wunder. Heute ist sie ganz brav, läuft in einem angenehmen Tempo mit und ich kann sie hier gut im Auge behalten. Die macht manchmal so komische Sachen und steht dann auf einmal im Wald. Es sind so Tage, an denen man merkt, dass sie nicht geradeauslaufen kann. Deswegen muss ich immer auf sie aufpassen. Einer muss sich doch um sie kümmern. Ohne mich würde sie sich in diesem Wald verirren. Es ist gut, dass sie mich gerade wieder anschaut, so weiß ich, dass ich mich ein wenig ihr gegenüber zurücknehmen und mich wieder um meine Interessen kümmern kann. 

Seit wir losgelaufen sind, bin ich schon auf der Suche nach etwas, zu dem es sich lohnt zu rennen. Davon hatte ich heute noch viel zu wenig. Ich kann es zwar bis jetzt nicht sehen, aber ich höre, dass dort gleich von der rechten Seite ein Pferd kommen wird. Ich mache mich schon mal bereit. Ich schaue zu meinem Frauchen hoch, sie lächelt. Das ist gut, weiß ich doch damit um ihre Unterstützung für mein Vorhaben. Denn sie lächelt immer, wenn ich etwas aus ihrer Sicht gut mache. Und dann ist es da, das Pferd. Ich spurte los, ich gebe Vollgas. Lauthals blase ich das Horn der Attacke. Sie ruft einige Male, unterstützt mich im Angriff auf den Reiter, und dann höre ich schon wieder in ihrer Stimme, dass sie aufgibt. Sie hat Angst. Deswegen rennt sie auch nicht mit. Bestimmt wird sie sich gleich wieder vor Angst hinter einem Baum verstecken.

Bei dem Pferd angekommen, bremse ich etwas ab. Der Reiter springt von seinem Pferd und geht laut brüllend auf mich zu. Ich stoppe. Mit dem scheint es nicht gut Kirschen essen zu sein. Ich halte besser Abstand. Meine Vorderpfoten lang nach vorn gestreckt, fixiere ich ihn weiter und belle ihn lauthals an. Mein Po ist zusammen mit der Rute in die Höhe gestreckt; ich zeige ihm, was für ein toller Kerl ich bin. Dann macht er, furchtlos, noch zwei weitere Schritte schnell auf mich zu. Geschickt weiche ich nach hinten aus. Er nimmt einen Ast in die Hand und wirft ihn mir entgegen. Der Reiter meint es ernst. Er zeigt, dass er sein Pferd verteidigen will. Das nötigt mir Respekt ab. Ich werde leiser und suche nach einem gesichtswahrenden Ausweg, denn ich merke: hier komme ich nicht weiter. Noch ein weiteres Mal brüllt der Reiter mich an, dass ich verschwinden soll, ihn und das Pferd in Ruhe lassen soll. Er ruft noch einige Schimpfwörter hinterher, und dann macht er zwei, drei Schritte rückwärts in Richtung seines Pferdes. Das ist meine Chance. Jetzt kann auch ich gesichtswahrend den Rückzug antreten. Ich bewege mich rückwärts und meine Stimme wird leiser. Ich fange an, mich umzuschauen, nach links und rechts. Der Reiter dreht sich um und geht zu seinem Pferd; nun kann ich mich auch umdrehen und den Weg zurückgehen. Insgeheim denke ich bei mir, dass ein wenig von diesem Reiter auf mein Frauchen abfärben könnte. Denn der Reiter steht für sich und vor allem für sein Pferd ein. Mein Frauchen ist nicht in der Lage, dies zu tun. Immer muss ich mich gegen alle anderen Hunde und Menschen, die mir zu nahe kommen, verteidigen. Und ich hatte recht: Mein Frauchen hat sich wieder hinter einem Baum versteckt. Dieser menschliche Feigling. Ich halte kurz meine Nase in die Luft und kann sie schon riechen. Ich gehe auf direktem Wege zu ihr, und siehe da, sie freut sich, dass ich wieder für sie die Situation gerettet habe. Es ist schon anstrengend mit ihr. Gern würde ich mir ein etwas leichteres Leben wünschen, in dem ich mich weniger um alles kümmern müsste.

Rollentausch: Kind statt Hund

Nun machen wir ein kleines Gedankenspiel, ein “was wäre wenn”. Stelle dir jetzt bitte einmal vor, du wärst wieder in diesem Wald, auf diesem Weg, doch statt eines Hundes hättest du jetzt dein Kind bei dir. Wenn es nicht dein Kind ist, so stelle dir vor, es sei das Kind eines Freundes, für das du gerade verantwortlich bist.

Ihr geht diesen wunderbaren Weg entlang, die Sonne blinzelt durch die Bäume. Dein Kind, es ist jetzt ungefähr fünf Jahre und damit auf dem kognitiven Niveau eines erwachsenen Hundes, spielt etwas gelangweilt mit einem Stock herum, während es versucht, auf deiner Höhe zu bleiben. Rücksichtsvoll passt du dich der Geschwindigkeit deines Kindes an.

In einiger Entfernung kannst du erkennen, dass ein Weg euren Weg kreuzt. Gemächlich schlenderst du weiter. Ganz sanft kannst du das Klappern von Pferdehufen auf einem Weg hören. Du gibst dem ganzen keine weitere Bedeutung, ist es doch nur ein Pferd mit einem Reiter, dass gleich euren Weg kreuzen wird. Du siehst, dass auch dein Kind dies hörte, denn es schaut in Richtung der Kreuzung. Und dann könnt ihr beide es sehen, das Pferd mit seinem Reiter, wie er sich an den Bäumen vorbei in euer Sichtfeld schiebt. Sofort hat das Pferd mit dem Reiter die volle Aufmerksamkeit deines Kindes. Ohne über etwas nachzudenken, hebt es seinen Stock, rennt los Richtung Pferd und Reiter und brüllt dabei ein Halali. Offensichtlich ist es schlagartig in einem Ritterspiel versunken.  

Was wirst du jetzt tun? Deine Möglichkeiten sind begrenzt. Wirst du passiv zusehen und abwarten, was passiert? Oder wirst du proaktiv handeln und Verantwortung übernehmen?

Wenn du passiv zusiehst, wie das Kind in seinem vermeintlichen Rollenspiel schreit und auf das Pferd und den Reiter zu rennt, ist es möglich, dass das Pferd seine Hinterbeine in Richtung des Kindes dreht, um der von ihm als gefährlich empfundenen Situation zu entgehen und zurückzuschlagen. Alternativ kann der Reiter rechtzeitig vom Pferd abspringen, um das Kind aufzuhalten, eingreifen und die Verantwortung für die gesamte Situation übernehmen. In diesem Moment schützt er sowohl das Pferd als auch das Kind vor Schaden. Er zeigt Verantwortung für andere und für sich selbst. Wäre ich der Reiter, würde ich dich beschuldigen, unverantwortlich zu sein. Und du wüsstest, dass ich recht hätte, weil du über Lebenserfahrung verfügst.

Wenn du aktiv eingreifst, dann wirst du schnellstens hinter deinem Kind hinterherlaufen. In solchen Situationen habe ich selbst Großmütter mit Rollator gesehen, die auf einmal in den Sprint kamen. Dazu wirst du verbal eingreifen, um deinem Kind mitzuteilen, dass dieses Vorhaben eine dumme und gefährliche Idee ist und es jetzt stehen bleiben solle. Wenn du das Vertrauen und den Respekt deines Kindes genießt, dann wird es stehen bleiben und ruhig zu dir zurückgehen. Wenn nicht, dann wirst du weiterlaufen, bist du dein Kind erreicht hast, um ihm klarzumachen, dass man sowas nicht machen darf und man auf dich, als erfahrener Erwachsener, hören soll. Du gibst solche Anweisungen schließlich nicht aus Spaß, um es zu drangsalieren, sondern um es zu lehren, selbst irgendwann eines Tages sicher durch das Leben zu gehen.

Du entschuldigst dich beim Reiter, fragst ihn, ob bei ihm und dem Pferd alles okay ist. Er wird dir mit erschrockenem Gesicht respektvoll und höflich zunicken.

Du wirst dich für eine von zwei Optionen entscheiden. Ich bin mir sicher, dass über 80 % der Leser Option zwei wählen würden. Sie würden ihre Intuition und Lebenserfahrung nutzen, um Verantwortung zu übernehmen und in die Situation einzugreifen, um das Kind unter Kontrolle zu bringen und Schaden von allen Beteiligten abzuwenden. Die Frage ist, warum du nicht das Gleiche mit deinem Hund tust. Denn wäre es anders, würdest du dieses Buch nicht lesen.

Wenn du dich für die erste Option entscheidest, frage dich, warum du nicht bereit bist, Verantwortung für deine Mitmenschen und dein gesamtes Umfeld zu übernehmen. Die Antwort auf diese Frage ist auch der Grund, warum dein Hund, Pferd, Katze oder dein Kind dich nicht respektieren, dir nicht vertrauen oder nicht auf dich hören.

Unzählige Male habe ich mich mit Menschen über Probleme unterhalten, die sie mit ihren Hunden haben. Und unzählige Male sagte ich innerhalb weniger Minuten den folgenden Satz zu meinem Gesprächspartner: „Du hast Kinder und ich bin sicher, dass sie gut erzogen wurden, weil es dein Ziel war, dass sie einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten. Du hast intuitiv gewusst, dass du ihnen von klein auf gute Gewohnheiten beibringen musst, wahrscheinlich weil du so erzogen wurdest. Deshalb frage ich dich: „Warum hast du geglaubt, dass die Erziehung eines Hundes ganz anders sein muss als die eines Kindes, die viel komplexer ist, und in der du erfolgreich warst?“

Verstehe mich nicht falsch, ich möchte nicht, dass du Hunde und Kinder auf eine Stufe stellst. Die Hunde sollten immer nach deinen Kindern kommen. Deine Kinder sollten immer wichtiger sein und eine größere Bedeutung haben, als dein Hund. Aber die Erziehung deiner Kinder und die Erziehung deines Hundes ist in vielen Bereichen sehr identisch.

Und jetzt los, lass uns Wissen, was du denkst!