Vor einiger Zeit war ein Kynologe, ein Hundefachmann, regelmäßig bei  einem großen Privatsender zu sehen, manchmal sogar zur besten Sendezeit. Und nein, es handelte sich dabei nicht um Martin Rütter. 🙂 Dieser Kynologe erklärte immer wieder, wie das Lernen beim Hund funktioniert. Er führte dazu gerne erklärende Vergleiche an, und sein liebstes Beispiel war sinngemäß dieses: “Das geistige Weltbild eines Hundes befindet sich auf dem Niveau eines Autisten”. Haben Hunde Autismus? Seine Aussage zeigt bereits, dass dieser Hundefachmann nicht wirklich wusste, was Autismus bedeutet, sondern nur eine selbstentwickelte Vorstellung davon hatte, die in sein persönliches Weltbild passte.

Können Hunde Autismus haben? Können sie Autisten sein? Hunde werden manchmal als Autisten bezeichnet. Ist das so? Ich war doch sehr überrascht über diesen Vergleich und, nachdem ich ihn zum ersten Mal gehört hatte, erwartete ich einen regelrechten Shitstorm in den sozialen Medien, Abteilung Hundeforen. Doch nichts dergleichen geschah. Eher das Gegenteil: Manche wiederholten diese Aussagen vom Autismus beim Hund und bestätigten sie oder bekräftigten sie sogar. Ich blieb ziemlich irritiert und ratlos zurück.

Symptome von Autismus

Ich möchte an dieser Stelle die typischen Symptome für Autismus darlegen, damit wir wissen, worüber wir hier reden: “Die Symptome drehen sich typischerweise um soziale Kompetenzen, sprachliche Besonderheiten und Schwierigkeiten, Probleme in der nonverbalen Kommunikation und mangelnde Flexibilität im Verhalten.” (06.03.2019 Quelle: https://autismus-kultur.de )

Diese Symptome konnte ich mal an einem Kunden von mir beobachten. Er kam mit seinem Hund und dem Wunsch zu mir, dass sein Hund sich weniger körperlich nähert. Zunächst dachte ich an einem übertriebenen Verhalten des Hundes in Zusammenhang mit exzessiven Lecken durchs Gesicht und ähnlichem. Aber so war der Hund gar nicht. Er näherte sich seinem Menschen vorsichtig, Fast schon zurückhaltend. Es ging demMann vielmehr darum, dass der Hund gar keinen Körperkontakt zu ihm habe. Er erzählte mir weiter, dass er es auch nicht möge, umarmt zu werden. Nun wurde mir auch klar, warum er mir  bei der Begrüßung so widerwillig den Arm entgegen streckte zur Begrüßung.  (Corona gab es noch nicht). Ich plauderte noch ein wenig weiter mit ihm. Fragte ihn dieses oder jenes um weitere Informationen zu erlangen. Dabei stellte sich heraus, dass er Menschenansammlungen nicht möge. Und für ihn war eine Ansammlung von mehr als drei bis vier Menschen viel. Draußen wohlgemerkt, nicht in einem Raum. Deswegen war ja auch ganz froh, dass wir uns gerade draußen auf einem weitläufigen Hundeplatz befanden. Alleine! Ich fragte ihn nach seinem Tagesablauf und bekam Informationen, die auf viele festgelegte Rituale bestanden. Vor allem die Zeit zwischen dem Weckerklingeln und dem zur Arbeit gehen. Er konnte den Hund mit zur Arbeit nehmen. Und er arbeitete als Pförtner. Dort war er allein in seinem Raum, alle Menschen die kamen waren durch eine Scheibe von ihm getrennt. Das gefiel ihm. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass er meine Ironie nicht verstand. Sein deutlich irritiertes Gesicht zeigte es mir. Manche seine Reaktionen ließen auch erkennen, dass er meine Mimik bestenfalls schwer lesen konnte. Eigentlich etwas, was schon kleinste Kinder lernen und verstehen. Ich fragte ihn, ob er eine autistische Veranlagung hätte. Er schaute mich wieder irritiert an. Nach einer kurzen Pause fragt er mich: „Ist das so offensichtlich?“ 

Für einen Außenstehenden wie mich äußern sich die Symptome wie folgt:

  • Körperliche Nähe ist unerwünscht.
  • Viele, vor allem fremde Menschen schaffen ihnen Unbehagen.
  • Ritualisierte Handlungsfolgen geben Ihnen Sicherheit. Von manchen Menschen werden diese Handlungsfolgen als Tick bezeichnet.
  • Lärm erzeugt schnell starken Stress.

Grundsätzlich sind die Symptome bei Autismus sehr vielfältig und in sehr vielen Abstufungen der Intensität zu beobachten. Es gibt nicht „die“ Symptome.

Nun wollen wir die Aussagen des Kynologen Stück für Stück hinterfragen. Haben Hunde Autismus?

Soziales Bewusstsein und Kompetenz

Die soziale Kompetenz der Wölfe ist einer der Gründe, warum er domestiziert und wodurch er uns letztlich den heutigen Hund bescherte. Die Loyalität in einem Hunderudel und die Verbundenheit untereinander sind schon vor Jahrhunderten beschrieben worden, sind quasi legendär. In zahlreichen Veröffentlichungen aus den letzten hundert Jahren finden wir viele Beschreibungen von aufopferungs- und selbstlosem Verhalten von Hunden. Viele Berichte widmen sich dem altruistischen, also uneigennützigen Verhalten zum Wohle des Rudels. Die gezeigten Verhaltensmuster setzen jedoch Empathie oder Einfühlungsvermögen voraus, was in diesem Ausmaß bei Autisten sicher nicht anzutreffen ist. 

Nonverbale Kommunikation und Hunde-Autismus

Stattdessen stößt man bei Autisten auf “Probleme in der nonverbalen Kommunikation”, ein Bereich, in dem die Hunde wahre Meister sind. Bei Wölfen und Hunden wurde hier eine enorme Bandbreite erreicht, deren Beschreibung Bücher mit Hunderten von Seiten füllt. 

Hunde können Menschen anhand deren kleinster Signale in Mimik und Körpersprache geradezu “lesen”. So sind sie etwa fähig, bei Epileptikern einen bevorstehenden Anfall bis zu einer Dreiviertelstunde im Voraus zu verspüren und dies entsprechend anzuzeigen. Das schaffen auch nicht die modernsten medizinischen Errungenschaften.

Für Hunde mit Autismus ist nonverbale Kommunikation ein echtes Problem.
Für Hunde mit Autismus ist nonverbale Kommunikation ein echtes Problem.

Flexibilität

Erst ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit haben es ermöglicht, dass Hunde zum “besten Freund des Menschen” wurden. Jeder Hundehalter, der seinen Vierbeiner meist genau beobachtet, kann einige Geschichten davon erzählen, wie schnell er sich immer wieder an verschiedenste Situationen angepasst hat. Ein schönes Beispiel ist die Wiese, auf der die unterschiedlichsten Hunde zusammentreffen. Dort gibt es innerhalb kürzester Zeit Anschauungsmaterial für ihre enorme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Ein Hund trifft auf einen anderen, und jedes Mal wird neu ausgewürfelt und ausgelotet: Angriff, Ignoranz, Demut oder womöglich noch etwas anderes, immer in Abhängigkeit vom Gegenüber. 

Mein Eindruck ist folgender: Leute, die Hunde generell mit Autisten über einen Kamm scheren, kennen sich nicht genügend mit diesem Thema aus. Doch ich lasse mir gerne erklären, wie dieser Vergleich zustande gekommen ist. Ich bin echt gespannt.

Mein Hund hat Autismus

Und dann gibt es da noch diejenigen, die von ihrem Hund behaupten, er habe Autismus, er sei ein Autist. Wie kommen die denn darauf? Sie haben offenbar irgendwo ein paar Symptome aufgeschnappt, die für Autismus sprechen könnten. Diese übertragen sie auf ihren Hund und finden sie natürlich dort prompt wieder. Und schon steht die Diagnose fest: Mein Hund hat Autismus, er ist ein Autist. Ich weiß nicht, in wie vielen Foren ich über diese vermeintliche Diagnose gelesen habe. Und wie häufig in Blogs und deren Kommentarspalten darüber schwadroniert wird, ob der eigene Hund ein Autist sei oder nicht.


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Autismus bei Hunden ist angeboren

Grundsätzlich muss man in diesem Zusammenhang wissen, dass Autismus angeboren ist. Wenn man sich aber die von den Hundehaltern dargestellten und beobachteten Symptome ansieht,  kann man in den allermeisten Fällen sehr schnell feststellen, dass es sich dabei um erlernte Verhaltensweisen handelt – und nicht um angeborene. Nicht jeder Hund, der hyperaktiv ist, und/oder andere Hunde oder sonstige soziale Kontakte ignoriert, ist gleich ein Autist. Man kann wohl eher davon ausgehen, dass er höchstwahrscheinlich körperlich nicht ausgeglichen ist, weil er zu wenig Bewegung hat.

Nicht jeder Hund, der in der Lage ist, sich geistig und sozial zu isolieren, ist ein Autist. Wahrscheinlicher ist es, dass er einfach nur gelernt hat, sich so zu verhalten, zum Beispiel aus einem emotional starken Erlebnis heraus. Nicht jeder Hund, der mit seinen Artgenossen keine Kommunikation betreibt, ist gleich ein Autist. Ich habe genug Hunde kennengelernt, die schlicht und ergreifend keine Lust dazu hatten. Es soll übrigens auch solche Menschen geben, die keine Lust auf ihre Mitmenschen haben. 

Ein paar Symptome reichen nicht aus

Ich kann nicht ausschließen, dass es Autismus bei Hunden gibt. Ich frage mich jedoch: Wem nutzt eine solche Diagnose? Beantworten kann ich es nicht. Sie nutzt weder dem Menschen noch dem Hund. Ich weiß aber, dass man nach ein paar beobachteten, vermutlichen Symptomen seinen eigenen Hund nicht gleich zum Autisten erklären kann.

Mich irritiert vielmehr die Gedankenwelt der Hundehalter, die ihrem Hund autistische Züge andichten wollen, die ihm den Autismus regelrecht nachweisen wollen. Was motiviert sie dazu? Warum verwenden sie so viel Zeit und Energie darauf, Symptome bei ihm zu suchen, nur um anschließend über seinen Autismus reden zu können? Wollen sie, dass er aus der Masse heraussticht, weil er etwas Besonderes ist – egal wie? Oder geht es ihnen um so etwas wie Mitleid? Ich kann die Beweggründe jedenfalls nicht verstehen oder nachvollziehen. In meinem Leben haben mich bisher schon sehr viele Hunde begleitet, und jeder davon war eine eigene Persönlichkeit, mit Stärken und Schwächen.

Jeder Hundehalter mit ähnlichen Erfahrungen wird genau wissen, wovon ich hier rede. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, meine Hunde auf Autismus zu überprüfen. Denn was hätte ich davon? Welchen Vorteil brächte es mir, wenn ich wüsste, dass einer meiner Hunde ein Autist ist. Mal ehrlich, es ändert doch im Grunde genommen nichts! Deswegen bleibt mein Hund doch mein Hund, unverändert, so wie er ist und bleibt. Gehe ich dann anders mit ihm um? Warum sollte ich denn mein Verhalten nach einer solchen Diagnose ändern?

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Lieber Leser, wie überrascht wirst du sein, wenn du diesen Artikel über den Jagdtrieb jetzt liest?

4 Gedanken zu „Haben Hunde Autismus?“
  1. Ich bin nicht der Meinung, dass Menschen, deren Hunde autistische Züge aufweisen, ihren Hunden Autismus andichten wollen, um sich interessant oder wichtig zu machen.
    Ich denke, es geht darum, die Besonderheiten der Hunde zu verstehen und zu akzeptieren, um bedürfnisgerechter und angemessen mit ihnen umgehen zu können.

    Ich habe einen extremen Angsthund aus Italien, der einige autistische Merkmale aufweist.
    Das heißt für mich noch lange nicht, dass mein Hund ein Autist ist – was sein kann, aber nicht sein muss.

    Ich weiss nur, dass er sehr anders ist als ein „normaler“ Hund, dass ich ihn so akzeptieren und entsprechend mit ihm umgehen muss. Darum ist es wichtig, dass ich mir Gedanken mache und mich mit seinen Verhaltensbesonderheiten beschäftige, dass ich ihm z. B. möglichst keine Veränderungen zumute, wenn er mit Unsicherheit und Panik darauf reagiert, dass ich laute Geräusche vermeide, wenn er massive Geräuschangst hat usw.

    Und das alles hat doch gar nichts mit Egoismus oder sonstigen negativen menschlichen Verhaltensweisen zu tun.

    1. Moin Marita,
      vielen Dank für deine Rückmeldung und deine interessante Sicht der Dinge.
      Viele Grüße
      Eckard Wulfmeyer

  2. Hallo, meine Hündin Ronja lebt nun seit 13 Jahren bei mir, meine 1. Hündin Mira ist vor einem Jahr gestorben. Sie war mein Herzhund und Ronja war auf sie total fixiert. Ronja ist ganz anders als Mira . Sie lebt in ihrer eigenen Welt und zeigt selten Zuneigung und Freunde, wie ein normaler Hund. Manchmal tut es richtig weh, wenn Ronja so emotionslos ist. Keine Nähe erträgt und sich separiert. Aber ich kenne meine Maus ganz genau und weiß, dass sie vertrauen zu mir hat und sich auch öffnet, wenn sie da ist. Mir geht es nicht darum mich hervorzuheben, sondern darum, meinen Hund zu verstehen und für ihn da zu sein. Es ist manchmal nicht einfach mit einem etwas anderen Hund, höre oft, zu deinem Hund bekomme ich keine Verbindung. Ja, mir geht’s auch manchmal so, aber dann merke ich an vielen Dingen, dass es mein Hund ist, dass sie mich lieb hat und Vertrauen zu mir hat. Es geht nicht um Aufmerksamkeit, sondern um Verständnis und Vertrauen. Ich suche nach Lösungen, um sie besser verstehen zu können, sonst nichts. Alles Gute, Barbara

    1. Hallo Barbara,
      schön von dir zu Lesen. 🙂
      Ja, Beziehungen zwischen Mensch und Hund sind so vielfältig. Man kann sie gar nicht zählen. Und doch möchten Menschen gerne alles Kategorisieren. So auch Beziehungen. Menschen verwenden dazu Schubladen in ihrem Kopf, statt jedes Individuum, egal ob Mensch oder Hund, einfach sich selbst sein zu lassen. Denn wer von uns will denn urteilen oder beurteilen, ob dein Hund nicht genau so glücklich ist, wie es ist? Nach menschlichen Vorstellungen und Normen womöglich nicht, aber nach der deiner Ronja? Wer weiß das schon?
      Liebe Grüße und knuddel deine Ronja von mir
      Eckard

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