„Alles, was ein Mensch tut, verändert sein Gehirn“, sagt Galant

Mich hat sehr überrascht, wie stark die Hunde in den vergangenen Jahren ohne Festlegungen leben. Sie wachsen in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten auf, in der sie kaum noch Grenzen kennenlernen. Sie haben keine festen Strukturen in ihren Tagesabläufen und entwickeln wenig Frustrationstoleranz. Viele Hunde haben daher Schwierigkeiten, ein Selbst zu entwickeln. Zu verstehen, wer sie sind und wo sie hingehören, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen. 

Unter den Hundehaltern hat sich eine Kultur entwickelt, in der sie möglichst viel für die Hunde bereitstellen wollen. Sie streben danach, ihren Hunden alle Möglichkeiten offenzuhalten und sie mit allem bestmöglich auszustatten – sei es viele Kissen, die aufwendigsten Intelligenzspiele, ausgefallene Quietschtiere, verschiedenstes Entertainment und zahlreiche Leinen und Geschirre zu den unterschiedlichsten Zwecken und Gelegenheiten. Dazu noch alles, was die Hundezubehörindustrie gerne verkaufen möchte. 

Die vorrangigen Erziehungsziele dieser Hundebesitzer sind Frieden und Einfühlungsvermögen. Daher versuchen sie, Konflikte mit ihren Hunden zu vermeiden, setzen selten klare Regeln und verpflichten die Hunde nicht zu Dingen, die sie nicht mögen. Sie streben nach einem freundlichen Verhältnis zu ihren Hunden und meiden so weit wie möglich Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten.

Es ist eine Generation von Hundehaltern, die gewissermaßen aus der Distanz erzieht, da sie die echte Interaktion mit Hunden als anstrengend empfindet und daher teilweise auslagert.

Moment, die Erziehung wird ausgelagert?

Ja. Die zunehmende Nutzung von Medien wie YouTube und Facebook zeigt, dass sie nun als wichtiger Bestandteil der Beziehung zwischen Hundehaltern und ihren Hunden betrachtet werden. Diese Medien werden bewusst eingesetzt, um die Hunde zu trainieren und zu unterhalten, sodass sie ruhig bleiben und keine negativen Emotionen erleben. Doch es ist wichtig zu bedenken, dass Stress und Aufregung auch zum Leben und zur Entwicklung dazugehören.

Die Hundehalter versuchen alle Bedürfnisse in Einklang zu bringen, damit unbedingt Harmonie herrscht. 

Dabei können Hunde in Konflikten Grenz-Erfahrungen (Leitplanken, Rahmen) machen. Hunde in ihrer Entwicklungsphase fordern das geradezu heraus. Aus der Entwicklungspsychologie ist bekannt, dass Hunde an Grenzen erfahren: Das bin ich – und das bin ich nicht, da gehöre ich zu (Familie usw.) und das sind die anderen. Wenn Hunde ohne Konflikte aufwachsen, weil Widerstände ihnen einfach genommen werden, dann haben sie Probleme damit, ein Selbstkonzept zu entwickeln. Sie können sich selbst nicht richtig kennenlernen. Diese Hunde sind auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst und auf der Suche nach Begrenzung. Sie müssen für nichts mehr kämpfen, sich nicht mehr anstrengen. Und das ist auch der Grund, warum Hunde so gerne andere anpöbeln. Andere Hunde und Menschen. Auch die eigenen. Dort suchen sie unter anderem nach Grenzen, nach Reibungspunkten.

Richtig zufrieden oder gar ausgeglichen wirken diese Hunde nicht. Sie bekommen zwar viel bereitgestellt, haben Auswahlmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten – trotzdem sind sie seelisch hungrig.

Der Ausspruch „Hunde laufen einfach mit“ ist vollkommen zutreffend! Sie in den absoluten Mittelpunkt zu stellen, ist eher schädlich.

Obwohl Hunde bekommen, was sie mögen, wollen sie lieber auf Abenteuer mit ihren Besitzern gehen. Sie vermissen die Interaktion und den Austausch mit ihren Bezugspersonen – das, was Beziehungen besonders macht. Empathie ist ein erstrebenswertes Ideal, dem viele folgen. Doch echte Empathie fehlt oft in Mensch-Hund-Beziehungen.

Empathie entsteht, wenn wir mit anderen interagieren. Jeder hat unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche. Grenzen sind dabei auch wichtig: Wenn niemand einem Hund zeigt, wo seine Grenzen liegen, wird ihm diese Erfahrung fehlen.

In der Folge haben wir Generationen von Hunden, die zwar viel mehr Möglichkeiten hat (Agility, Mantrailing, Obidience, Canicross), aber wenig Orientierung und Unterstützung durch seine Menschen erfährt. 

Die Hunde haben wenig Gefühl für die Realität und auch für die Begrenzung anderer. Ihnen fehlt einerseits ein Selbstkonzept und andererseits die Fähigkeit, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Sie haben nicht gelernt, mit Schwierigkeiten und Frustrationen gut umzugehen. Sie sind gut ausgerüstet mit Idealen, aber sie sind nicht gut gerüstet für das, was kommt, für das Leben.

Es geht auch anders, wie man an verschiedenen Ländern sehen kann. Dort beschäftigen die Hundehalter sich mindestens so viel wie hier mit ihren Hunden, aber nur mit klarer Gegenleistung. Es ist ein Geben und Nehmen. Das nennt sich auch Respekt. Diesen Respekt kann man nicht üben, trainieren oder ausbilden. Respekt kann man sich nur erarbeiten, sich beim Gegenüber verdienen. Und Respekt ist keine Einbahnstraße. 

In diesem Zusammenhang passt auch das Märchen vom egoistischen Hund. Egoistische Hunde wurden zum Egoismus erzogen. Sie wurden nicht so geboren. Dasselbe gilt für den „sturen“ Hund. 

Um am Ende nicht selbst zum Opfer seines Hundes zu werden, dass ständig gemobbt wird, gehören diese Regeln dazu:

  • Sich nichts gefallen zu lassen. Vor allem nicht von seinem eigenen Hund.
  • Wir fangen keinen Ärger an, aber wir beenden ihn.
  • Wer sich asozial verhält, ist asozial und nicht lieb. (Zuhause ist er so lieb und kuschelig, aber draußen, …)

Den Hundehaltern fehlt nicht der soziale Kompass, den haben sie und er ist meistens perfekt geeicht. Es fehlt der Glaube an sich selbst und die vorhandenen Mittel. 

In diesem Sinne: Geht raus mit euren Hunden, habt Spaß, seid keine Hasenfüße und erklärt ihm nebenbei eure Regeln. Lasst sie Bestandteil eures Lebens sein, aber nicht mehr. Dann klappt das mit dem respektvollen Miteinander fast von allein.


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Ein Gedanke zu „Hunde in unserer Gesellschaft: Respekt ist keine Einbahnstraße“
  1. Wo ist hier die Überraschung? Der Hund „läuft wirklich im normalen Familienleben mit“.
    Konfrontation wird überall vermieden, bei den Kindern sowieso, warum dann nicht auch bei Hunden?
    Solange Konfrontation negativ mit Aggression in Verbindung gebracht wird, werden auch viele Menschen sie vermeiden, beim Kind wie beim Hund.
    Interessant ist nur, dass „irgendwo im Hinterkopf“ scheinbar doch akzeptiert wird, dass Konfrontation ab an und sinnvoll sein könnte.

    Aber genauso, wie es in der Gesellschaft Mode geworden ist, klare Ausdrücke kompliziert zu verklausulieren statt sie direkt zu benennen, wird dann Konfrontation „outgesourced“ an andere.
    Denen wird dann quasi aufgebürdet der Buhmann zu sein. Namentlich sind das Erzieher, Lehrer, Hunde-Nanny’s, Hundetrainer.
    Sollen die doch für die Grenzen zuständig sein und dem Kind/Hund (der Unterschied wird offensichtlich immer kleiner) Grenzen setzen.
    Für Eltern und Hundebesitzer bleibt dann der angenehme „Leckerlie-Part“ übrig.

    Doof nur, dass sowohl Kinder als auch Hunde meine(!) Grenzen und Hausordnungspunkte kennen lernen sollten und nicht die der Lehrer/Trainer.

    Was bleibt, sind Kinder und Hunde, die „irgendwie komisch“ sind (zumindest zu Hause).
    Da muss dann die nächste Betreuung beauftragt werden.

    Eigentlich ist es doch so einfach: wer zusammen lebt, sollte auch untereinander regeln, wie das Zusammenleben auszusehen hat.
    Das Ergebnis: jeder weiß, woran er ist und wie weit er gehen kann.

    Und, als „Nebenprodukt“: der, der Grenzen setzen kann, ist dann auch der, dem Vertrauen entgegengebracht wird, der Sicherheit vermittelt.

    Ich glaube, viele wissen gar nicht, was sie durch ihre Vermeidungshaltung alles verspielen!

    Oder, drücken wir es positiv aus: (ich komme mal wieder „auf den Hund“) was gibt es Schöneres, als zu erleben, dass ein Hund dankbar ist, wenn ich als Besitzer ihn durch eine seiner Meinung nach kritische Situation gebracht habe?

    Dieses Vertrauen in den Besitzer bekommt kein Hundetrainer und kein Leckerlie hin. Das muss sich jeder erarbeiten.

    Wer es gescheut hat, fällt auf. Ganz sicher.
    Aber als Trost: damit gehört man heute zur Mehrheit! 😉

    Jörg

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